Ludmilla Steckelberg de Santana: Siegen Colorem

Die Art Galerie Siegen präsentiert ab dem 9. Juli 2017:
Ludmila Steckelberg de Santana: Siegen Colorem

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Vernissage: Sonntag, den 9. Juli 2017, um 11 Uhr
Art Galerie, Fürst-Johann-Moritz-Str. 1, 57072 Siegen
Zur Eröffnung sprach Kirsten Schwarz M.A.

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Beginnend im Juli 2017 zeigt die Siegener Art Galerie im Kunstsommer 2017 Fotocollagen der brasilianischen Künstlerin Ludmila Steckelberg de Santana. Ludmila stellt in ihrer Ausstellung eine „Heimkehr“ dar. Die Künstlerin macht die Reise von Johann Moritz von Naussau, der nach Brasilien reiste um die Stadt Recife zu gründen, in entgegengesetzter Weise. Sie bringt ihre Bilder aus Siegen, Geschenke des Kurators Thomas Kellner, zurück ans Licht und nach Deutschland, die nun durch textile Interventionen in Kunstwerke verwandelt wurden. Es ist ihre Weise, Siegen einen Teil seiner sozialen Geschichte zurückzugeben, welche die Künstlerin bearbeitet und bereichert hat. Für Ludmila ist diese Arbeit auch das Zurückfinden zu ihren deutschen Wurzeln, denn ihr Urgroßvater emigrierte von Deutschland nach Brasilien. Der Name der Ausstellung Siegen Colorem entstand durch den Namen ihrer Kunstreihe: Fiat Colorem bedeutet aus dem Lateinischen frei übersetzt „und es werde Farbe“. (Hergeleitet von der vom berühmten Zitat „und es werde Licht“.) Eine der Intentionen der Künstlerin ist es der schwarz-weißen, vergessenen Vergangenheit neues Leben und Farbe, durch die Fotografie als dem materialisierten Gedächtnis und all der Bedeutung, die sie innehat, einzuhauchen. Sie möchte die Menschen mittels der Orte und Geschichten hinter den gesammelten und verwandelten Bildern aus Siegen in ihrer Ausstellung zum Leben erwecken.

Ludmila Steckelberg ist eine interdisziplinäre Künstlerin ansässig in Montreal, Kanada, die das Medium der Fotografie hauptsächlich als Mittel der Appropriation-Art und Intervention erkundet. In den letzten Jahren begann sie sich auch näher mit Textilien als Medium zu beschäftigen, wobei sie weiterhin alte Fotografien zur Grundlage ihrer Arbeit nahm. Ludmilas Arbeit wurde, seit dem Beginn ihrer Karriere 2005 vielfach weltweit veröffentlicht und ausgestellt. Ihre Werke wurden bereits in vielen Ländern wie Brasilien, Kanada, Litauen und Deutschland ausgestellt. Ihre Arbeiten in privaten und öffentlichen Sammlungen, u.a. dem Museum of Modern Art in Rio de Janeiro.

9. Juli bis 26. August 2017
Vernissage: Sonntag, 9. Juli 2017, 11 Uhr

Zur Eröffnung sprach Kirsten Schwarz

Ludmila Steckelberg de Santana

‚Für den Fotografen ist das Foto Endprodukt, für den Künstler Ausgangspunkt weiter zu entwickelnder Aspekte.‘
So bringt der Fotokünstler Wilfried Petzi die künstlerische Arbeit im Umgang mit vorgefundenen Fotografien auf den Punkt. Eine Reihe von zeitgenössischen Künstlern arbeiten mit Bildern aus dem Strom der Bilderflut, die im Netz leicht zugänglich sind, andere, wie Ludmilla Steckelberg de Santana mit alten, analog entstandenen schwarz/weiss Fotografien. Diese sind aufgeladen mit Erinnerungen und Geschichten: Denen des Fotografen, der Dargestellten aber auch des Betrachters, der in eine fremde Welt gezogen wird, die eigene Erinnerungen weckt, aber auch Vorstellungen und Fantasien generiert, ausgelöst durch Motiv, Zeit und Atmosphäre des Fotos.
Familienalben sind Orte kollektiver Erinnerung, sie werden oft über Generationen weitergetragen, manche jedoch verschwinden in den Wirren der Geschichte oder werden dem Zufall überlassen.

Auf Flohmärkten findet man immer wieder solche Relikte der Vergangenheit, mit denen man im ersten Augenblick nichts anzufangen weiss. Man kennt weder die Menschen noch die Orte, fast ist es etwas peinlich, in dem intimen Familienalbum zu blättern, Menschen anzusehen wie durch ein Schlüsselloch, denn diese Bilder waren nicht für die Öffentlichkeit, sondern für die Familie bestimmt.

Ludmila Steckelberg de Santana nimmt diesen Aspekt der Erinnerungsbewahrung sehr ernst. Die Menschen verlieren ihre Würde nicht, wenn man sie auf ihren Fotos nicht mehr erkennt. Sie waren einst da, lebendig und jemand hat sie für Wert empfunden fotografiert zu werden. Besonders in einer Zeit, als Fotos noch nicht inflationär gemacht wurden, sondern zu besonderen Gelegenheiten.
Die von der Künstlerin verwendeten Fotografien entstammen z.T eigenen Familienalben aber auch Flohmarkt-Funden, die Thomas Kellner, den sie als ihren Mentor bezeichnet, ihr zukommen liess. Beide Alben behandelt sie mit dem gleichen Respekt. Sie bilden die Grundlage für fast alle hier ausgestellten Arbeiten.
Nach ihrem Designstudium begann die Künstlerin zu fotografieren und sich mit Fotografie zu beschäftigen, seit einigen Jahren hat sie jedoch das Herstellen eigener Fotografien aufgegeben und arbeitet ausschliesslich mit gefundenem Material.
Geografisch bewegt sich Ludmilla Steckelberg de Santana im Dreieck Kanada, wo sie lebt, Brasilien, wo sie aufwuchs, und Deutschland, wo ihre familiären Wurzeln sind. Inhaltlich geht es um das Verschwinden von Menschen, das Abreissen von Beziehungen – gewollt oder ungewollt – , die daraus entstehende Leere und unsere individuelle Art, damit fertig zu werden.
Die Nutzung und Transformation von Fotografien hilft der Künstlerin Kraft zu schöpfen aber sie verliert auch Kraft, die Arbeit erschöpft emotional. Sie nutzt die Fotografien als haptischen Beweis einer Erinnerung.
Für ihre Arbeit über die Opfer der Diktatur in Brasilien recherchierte sie lange in den Archiven und las über 500 Akten. Sie zeigt uns fast dokumentarisch Akten und Gefängnisfotografien der Opfer des Regimes, welches in den 60er Jahren eine Schreckensherrschaft in Brasilien aufbaute. Bei genauerem Hinsehen bemerkt man jedoch, dass die Köpfe in den Fotografien unkenntlich gemacht wurden, indem die Künstlerin sie mit einer Stickerei überzog. Bis auf das Bild der einzigen weiblichen politischen Gefangenen, die sie besonders hervorheben wollte, sind alle Köpfe so ihrer individuellen Züge beraubt. Ludmilla Steckelberg de Santana möchte den Menschen ein Stück ihrer Würde zurückgeben, ihr Recht am Bild. Sie verschwinden mit Hilfe der textilen Intervention auch vor den Augen des Regimes, welches einer wichtigen Handhabe, des Polizeifotos, beraubt wird.

Im selben Raum befindet sich die Serie ex-voto, die an Votivgaben in der katholischen Kirche erinnert. Die Künstlerin selbst gab nachwachsende Teile ihres Körpers wie Haare und Milchzähne  und zeigt uns damit, wie persönlich diese Arbeit ist. Vier Stoffbahnen aus Spitze, über Stickrahmen drapiert wie Kleider, enthalten Details, die erst aus der Nähe sichtbar werden. Jedes enthält eine alte Fotografie und gefundene oder gestaltete Details sowie Dinge aus ihrer Kindheit, die im Stoff verwoben scheinen.

Immer geht es der Künstlerin auch um Konstrukte von Weiblichkeit. Die Arbeit sei ‚feminin und feministisch‘ sagt sie selbst. Unschuld, Jungend, Erwachsenwerden, Beziehungen und das Bild, das alle von der Rolle der Frau haben, sind die Themen dieser, aber auch einiger anderer Arbeiten.

Verbindend in allen Werken ist die Verwendung der Stickerei, um Dinge, Motive und Menschen zu verhüllen, aber auf diese Weise auch sichtbar zu machen. Der Blick fällt stets erst auf die ungewöhnlichen Interventionen: Was ist dort passiert, wer war dieser Mensch? Ludmilla Steckelberg de Santana perforiert erst die Konturen der ausgewählten Bildelemente um diese dann mit buntem Garn in alle Richtungen auszufüllen. Ein abstraktes Gefüge legt sich so über das Motiv und betont die Idee der verlorenen Erinnerung ganz plastisch. Ebenso finden wir Perlen- und Pailettenarbeiten. Die Stickerei und der Umgang mit Spitze ist für die Künstlerin ein weiterer Verweis auf eine spezifischen weibliche Geschichte, die sie in allen drei geografischen Orten wiederfand. Handarbeit und der Umgang mit verschiedenen, auch sehr feinen Stofflichkeiten ist seit jeher ein Privileg der Frauen. Feinste filigrane Stoffarbeiten entstanden im Laufe der Jahrhunderte durch weibliche Hände und auf diese Tradition beruft sich die Künstlerin in ihren Arbeiten.

Einen Nullpunkt ihrer Arbeiten nennt sie die kleinen, eher unauffälligen Stickarbeiten hinter Glas, in denen sie 2 Fotos mit der Rückseite aneinander legt und ausgewählte Bildelemente mit Garn nachzieht. ‚No fotograph‘ nennt sie sie. Stark abstrahiert, ohne Hinweis auf das Fotomotiv im Ganzen präsentiert sie hier mystische Ausschnitte wie schnell ausgeführte Zeichnungen.

Die Serie für Siegen nennt sie ‚Siegen Colorem‘ – Es werde Farbe in Siegen! Ein Wunsch, den sie konkret ausführt, indem sie alte s/w Fotografien aus einem Foto-Album aus Siegen mit ihren bunten Stickarbeiten koloriert. Zu diesen Fotografien stellte sich keine Nachforschungen an, da sie eine eigene Aura besitzen, eine geheimnisvolle Ausstrahlung aus Vergangenheit und Gegenwart, denn diese Menschen sind verschwunden, aber zugleich im Bild präsent. Dies reicht Ludmilla Steckelberg des Santana als Ausgangspunkt, als hochemotionale und persönliche Auseinandersetzung mit dem visuellen Erbe verstorbener Menschen.

Ihre Stickereien und Näharbeiten wirken grob und spontan, nichts erinnert an die kaum sichtbaren Stiche vergangener Handarbeiten, wo die Arbeit hinter dem Endprodukt nicht zu sehen sein sollte. Die Künstlerin geht noch einen Schritt weiter und präsentiert seit neuestem gross aufgezogene s/w Postkarten der Vorkriegszeit, um ihre Interventionen anschaulich zu machen. Das Material, der einzelne Stich, sollen sichtbar sein, die Betonung der Linie, des Umrisses in ihrer Stofflichkeit überdimensional erscheinen.

‚Entdecken,Recyceln, Bewahren‘ ist der Titel einer Ausstellung zum Thema  künstlerisches Arbeiten mit vorgefundenes Material in diesem Jahr in Schwaben. Er würde auch auf das Werk Ludmila Steckelberg de Santanas sehr gut passen. Ihr respektvoller Umgang mit vergangenen Eindrücken, deren Wiederaufgreifen und Transformieren in unser kollektives Gedächtnis lässt die Bedeutung dieses Kulturschatzes erkennen, den man nicht nur konservieren, sondern auch nutzen und umnutzen darf, gerade in dem behutsamen Sinne, in dem Ludmila Steckelberg de Santana dies tut.

Kirsten Schwarz M.A.